Der schwarze Faden

Samantha Aguilar liebt die Farbe Schwarz, die sich wie ein roter Faden durch ihr Leben zieht. Schwarz passt zu allem, sodass sie beim Anziehen nicht ständig Kombinationen ausdenken muss. Diese Farbe ist edel, satt, kraftvoll, glänzt und strahlt Präsenz aus.

2011 haben sich unsere Wege in Winterthur zufällig gekreuzt. Seitdem lasse ich meine Haare nur noch von Samantha schneiden. Sie ist eine begnadete Coiffeuse – und eine leidenschaftliche obendrauf. Dieser Beruf ist ihre Passion, die sie nicht aufgeben möchte. Samantha ist glücklich, wenn ihre Kunden zufrieden sind. Einzig Dauerwellen und Hochsteckfrisuren machen ihr keinen Spass.
Eigentlich wollte Samantha Zahnärztin werden. Heute wundert sie sich über diesen Berufswunsch, denn der Blick in einen fremden Mund findet sie gruselig. Sie hat rasch gemerkt, dass dieser Beruf für eine Realschülerin unrealistisch ist. Stattdessen eine Lehre als Dentalassistentin zu machen, interessierte sie aber nicht.

Irgendwann erschien der Berufswunsch Coiffeuse auf Samanthas Radar und sie schrieb diesen in alle Freundschaftsbücher, die damals eifrig herumgereicht wurden. Fünfmal schnupperte Samantha als Coiffeuse und fünfmal war sie todunglücklich, fühlte sich ausgebeutet. Trotzdem hielt sie an diesem Beruf fest und bewarb sich für eine Lehrstelle. Ihr künftiger Lehrmeister sah ihre Bewerbung in einem Geschäft liegen, welches die Lehrstelle bereits anderweitig vergeben hatte, und packte sie kurzerhand ein. Er meldete sich bei ihr und bot ihr eine Lehrstelle an. Für Samantha ein Volltreffer! Es war der schönste Salon weit und breit, mit Kalksteinboden, auf zwei Stockwerken und mit einem flotten Spanier als Chef. Toni, der zweite Geschäftsinhaber und Samanthas Berufsbildner, war wie ein Vater für sie – streng, aber immer gut drauf. Es verging kein Tag, an dem er nicht pfeifend und singend durchs Geschäft wandelte.

Nach der Lehre arbeitete Samantha 80% als Coiffeuse in Zürich und absolvierte nebenbei eine Weiterbildung zur Visagistin. Ein privater Schweizer TV-Sender wurde während dieser Ausbildung auf sie aufmerksam und bot ihr eine Stelle an. Sie nutzte diese Chance und sammelte dort wertvolle Erfahrungen als Stylistin für Moderatoren der Meteo-News. In dieser Zeit durfte sie auch als Stylistin an einer grossen Modeschau teilhaben. Doch das Show-Business, der Zeitdruck und das Arbeiten nach Vorlage entsprachen ihr nicht. 2011, kurz bevor ich ihr begegnete, machte sich Samantha selbständig und eröffnete in Winterthur den Coiffeure-Salon «The art of hair».

Nach fünf Jahren Selbständigkeit verspürte Samantha erneut den Drang nach einer Veränderung und mehr Abwechslung. Die Sicherheitsbranche interessierte sie und sie setzte sich mit verschiedenen Ideen auseinander. Ihre Ausbildung im israelischen Nahkampf «Commando Krav Maga» hätte ihr die Tür zum Personenschutz geöffnet. Die Ausbildung zur Grenzwächterin war ihr zu militärisch und sie hätte in einem Internat leben müssen. Polizistin stand ebenfalls zur Debatte, doch ihr grundsätzliches Problem mit Autoritäten hielt sie von all diesen Optionen ab. Samantha will und kann sich nicht unterordnen.
Schlussendlich landete sie 2017 bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen Zürich und absolvierte einen fünfwöchigen Grundkurs. Obwohl Samantha eine gewisse Routine schätzt, fühlte sie sich auch dort rasch unterfordert. Seit kurzem ist sie Teamchefin. Sie legt grossen Wert auf ein angenehmes Arbeitsklima. Schliesslich verbringe sie mehr Zeit bei der Arbeit als zu Hause. Sie versucht alle Mitarbeitenden gleich zu behandeln und sich selber nicht zu verstellen. An dieser Stelle wirft Samantha ein, dass sie häufig auf den ersten Blick arrogant, mürrisch und introvertiert auf andere wirke. Aber wer sie besser kenne, wisse, dass sie im Grunde sehr herzlich, sensibel und verletzlich sei, insbesondere im Kontakt mit nahestehenden Menschen und guten Freunden. Gegenüber Fremden möchte sie keine Angriffsfläche bieten, weshalb sie sich mit ihrem speziellen Verhalten schütze.

Samantha besitzt noch ein zweites, geheimnisvolles Ich, das fasziniert ist vom Tod. Sie erzählte mir davon erst nach vielen Jahren, während sie wieder einmal meine Haare schnitt. Als ich sie nebenbei nach ihrem Lieblingsschmetterling fragte, nannte sie treffenderweise den Totenkopfschwärmer. Seit diesem Gespräch verstehe ich die Bedeutung ihres kunstvoll gestalteten Oberarm-Tattoos viel besser.
Der Tod gehört zum Leben und macht Samantha keine Angst. Das Sterben aber sehr wohl, vor allem wenn es qualvoll von statten geht. Sie weiss nicht, wann genau dieses Interesse in ihr erwacht ist. Gut möglich, dass es mit der Arbeit ihrer Mutter zu tun hat, die lange Zeit als medizinisch-technische Assistentin in der Rechtsmedizin gearbeitet hatte, dann in die Pathologie wechselte und nun als Human-Präparatorin im Anatomischen Institut tätig ist, wo sie für Körperspenden zuständig ist. Ihre Mutter ist in dieses spezielle Arbeitsfeld hineingerutscht. Sie wollte schon als Kind Leichen waschen und schminken. Doch zunächst begann sie eine Lehre als Sekretärin, musste diese aber wegen der Schwangerschaft mit Samantha abbrechen. Bis Samantha elf Jahre alt war, arbeitete sie in der Reinigung, im Verkauf, als Kosmetikerin und abends in einer Bar. Dann bewarb sie sich spontan bei der Rechtsmedizin. Man nahm sie tatsächlich auf und stellte sie auf die Probe. Doch obwohl man ihr die grausigsten Leichen vorsetzte, wuchs ihre Faszination nur noch mehr.

Die kleine Samantha bekam davon – wegen der Schweigepflicht, der ihre Mutter unterstellt war – nicht viel mit. Einzig der bestialische Geruch, der ihrer sonst so wohlriechenden Mutter manchmal nach der Arbeit anhaftete, liessen Samantha erahnen, womit ihre Mutter Geld verdiente. Besonders schlimm war es, wenn sie mit einer sogenannten Faulleiche zu tun hatte. Das war für Samantha der Horror! Doch inzwischen macht ihr das nicht mehr viel aus. Schon mit drei Jahren sah sie den ersten toten Menschen, ihre Grosstante. Danach folgten viele Freunde und Familienangehörige, ohne dass ihr das irgendwie Angst gemacht hätte.
Aufgrund der Kontakte ihrer Mutter zu Bestattern, wurde Samantha bald auch eine gefragte Kontaktperson für diese Berufsgruppe. Das Verlangen der Angehörigen nach Menschen, die ihre verstorbenen Liebsten schön machen und dadurch das Abschiednehmen erleichtern, wächst stetig. Nach dem Motto «der letzte Anblick bleibt», bemühen sich Samantha und ihre Mutter seit zwölf Jahren gemeinsam um einen würdevollen letzten Anblick. Ihr erster gemeinsamer Todesfall machte in Zürich grosse Schlagzeilen. Der Bestatter suchte jemanden, der diese Leiche mit spezieller Schminke behandeln konnte. Samantha hielt Rücksprache mit der Visagisten-Schule, die sie einst besucht hatte, um herauszufinden, worauf sie achten musste, und deckte sich mit Spezialschminke ein.

Bei dieser Arbeit geht es darum, alle sichtbaren Körperteile zu optimieren: Gesicht, Hände, Nägel und Haare. Ihre Mutter kümmert sich um die gröberen Dinge, wie zum Beispiel das Heben eingefallener Augäpfel oder das Verschliessen von Körperöffnungen, damit keine Flüssigkeiten austreten können. Sie beide ekeln sich eigentlich vor Entleerungen von Körperflüssigkeiten, aber ihre Mutter macht es einfach. Samantha hingegen konzentriert sich lediglich auf feinere Optimierungen.

Samantha betrachtet diese Arbeit als eine ganz natürliche Dienstleistung. Sie hat das Gefühl, den Angehörigen was Gutes zu tun. Ihre Dankbarkeit erfüllt sie mit Zufriedenheit, womit sich der Kreis zu ihrer Tätigkeit als Coiffeuse schliesst. Doch im Unterschied zur lebenden Kundschaft sind Tote die angenehmeren Kunden – weil sie still sind. Das versetzt Samantha regelrecht in einen Flow. Sie lässt Musik laufen, während sie an einer Leiche arbeitet, und spricht sogar mit ihr. Sie sieht es einer Leiche an, ob die Person qualvoll oder friedlich gestorben ist.

Samantha betont, dass weder sie noch ihre Mutter an eine Seele glauben. Der Glaube an eine Seele, an Geister oder Dämonen erscheinen ihnen unlogisch. Dadurch besitzen sie auch keine Berührungsängste mit den Toten. Ein toter Mensch ist tot! Er kann nicht wieder aufwachen. Samantha beschreibt sich und ihre Mutter als optisch total verschieden, aber vom Wesen her gleich. Beide haben in gewisser Hinsicht Mühe mit (lebendigen) Menschen, wobei ihre Mutter noch einen Zacken extremer sei. Ihr schwarzer Humor sei schon nicht immer leicht zu verstehen. Auf den Punkt gebracht, bevorzugt Samantha Menschen, die nicht mehr atmen, und ihre Mutter Menschen, die offen auf dem Tisch liegen. Diese Art von Humor gehört aber auch irgendwie zu diesem Arbeitsfeld, ergänzt Samantha, sonst ginge man wahrscheinlich kaputt.

Das Thema Tod zieht sich noch in anderer Hinsicht wie ein roter Faden durch Samanthas Leben. Sogar in den Ferien sucht sie Orte auf, die irgendwie damit zusammenhängen. Auf einer kürzlich erfolgten Reise in Irland stiess Samantha in the middle of nowhere zufällig auf einen verlassenen Friedhof. Sie folgte einer unscheinbaren Tafel. Nach einem zehnminütigen Marsch, vorbei an Kühen und Pferden, tauchte plötzlich eine verlassene Kirche auf einem Hügel auf. Zu ihrer Freude entdeckte sie ein offenes Massengrab, indem die Überreste irgendwelcher Leute aus der Gegend herumlagen. Die jüngsten Gebeine stammten aus dem Jahr 1954, die älteren aus dem 18.Jahrhundert.


Was Samantha aber am meisten beeindruckte, war die Ruhe, welche die auseinander bröckelnden, alten Gräber umgab – fast schon ein bisschen unheimlich. Zum ersten Mal zuckte sie am helllichten Tag zusammen. Nichtsdestotrotz spürte Samantha, dass sie am liebsten ganze Tage und Nächte an einem solchen Ort verbringen würde. Ihr Traum wäre es, einen verlassenen Friedhof zu hüten. Sie wäre den ganzen Tag allein, würde für Ordnung und Sicherheit der Toten sorgen, und die Ästhetik geniessen, die vernachlässigten, verfallenen Orten anhaftet. Der Waldfriedhof in Davos wäre ein solcher Ort in der Schweiz, der ihrem Ideal sehr nahekommt.

Während Samantha mir die Haare schnitt, schmückten wir diesen Traum noch weiter aus. Als ich vorschlug, Outdoor-Styling auf einem verlassenen Friedhof anzubieten, leuchteten ihre Augen! Vermutlich empfinden die meisten Menschen Unbehagen bei diesem Gedanken, aber Samantha geniesst alles rundum den Tod: die Düsterheit, die Ästhetik (Stichwort Tattoo), Särge in allen Formen und Grössen, Todessymbole wie der Pestdoktor oder Totenmasken, etc. Sie sammelt solche Utensilien zu Hause in einem Raum. In ihrer Jugend wurde Samantha als Satanistin beschimpft, was ihr aber ziemlich egal war. Wie gesagt, nur nahestehende Menschen können sie verletzen. Ihre Träume gibt Samantha aufgrund kritischer Stimmen sicherlich niemals auf. Dazu gehört nicht nur das Thema Tod, sondern auch ihr Ziel, eines Tages auf den kanarischen Inseln einen Gnadenhof für (lebende!) Tiere aufzubauen. Denn für Samantha sind Tiere die besseren Menschen.
Links und Kontaktadressen:
www.das-antlitz.ch (Sandra Aguilar, Samanthas Mutter)
Fotos (wenn nicht anders angegeben): Barbara Sorino und Samantha Aguilar

Wundervoller Bericht über Samantha. Sehr stimmig. Eine aussergwöhnliche Person und meine Hairartistin seit vielen Jahren. Meine Familie und ich haben beide Ladies von Herzen gern.
Wow… danke für diesen tollen und realen Bericht ❤️