Ein grosses Herz für Baumriesen

Wenn Michel Brunner über Baumriesen spricht, schlägt einem pure Faszination entgegen. Seit fünfzehn Jahren widmet er seine Energie und Zeit diesen gewaltigen und standhaften Wesen. Sie nähren seinen Pioniergeist und Sinn für Ästhetik.
Michel öffnet seinen Rucksack und fördert einen dicken Ordner zutage. Er kann die Anzahl Ordner nicht beziffern, die er in den letzten Jahren mit abgegriffenen Lageplänen, vollgekritzelten Notizzetteln und gepressten Blättern gefüllt hat.
Diese Daten sollten systematisch archiviert werden, aber dazu fehlt ihm die Zeit. Im Moment tourt Michel mit einem Vortrag und seinen Büchern quer durch die Schweiz. Seit gut zwei Jahren kann Michel von dieser ungewöhnlichen Arbeit leben. Wobei es sich um ein höchst bescheidenes Leben handelt. Keine Ferien. Keine grossen Ansprüche. Im Gegenteil, Michel hat sein Sicherheits- und Planungsbedürfnis sukzessive herunter geschraubt. Er weiss inzwischen selten, was er in einem Monat, einer Woche oder in der nächsten Stunde machen wird. Aber er kann machen, wofür sein Herz am meisten brennt, nämlich alte und aussergewöhnliche Bäume auskundschaften, vermessen und archivieren. Inzwischen hat er ein bedeutsames Archiv mit tausenden kuriosen und gigantischen Bäumen angelegt, das seinesgleichen sucht.
Entdecker und Pionier
Seine Kindheit verbrachte Michel in unmittelbarer Nachbarschaft zum Flughafen. Um Flugzeuge macht er heute noch einen grossen Bogen. Er sucht Bäume in ganz Europa lieber auf dem Landweg auf und verbringt unzählige Nächte im Auto. Schon als Kind zog es ihn in die Natur. Wesentlich dazu beigetragen hat auch der Drang seines Vaters nach Abwechslung von der staubtrockenen Arbeit in einer Versicherung. Auf den gemeinsamen Streifzügen in der Natur ist Michels Entdeckergeist erwacht.
Bäume, so stellte Michel irgendwann fest, sind ein extrem schlecht erforschtes Naturobjekt. Man weiss im Grunde heute noch nicht, warum ein Stamm sich dreht oder warum gewisse Bäume die Form einer Harfe annehmen. Ein Gebiet also, auf dem man noch etwas entdecken und erforschen kann.
Ästhet und Gestalter
Anfangs standen die Eigenschaften der Bäume im Zentrum seines Hobbys. Ziemlich bald aber rückte der künstlerische Anspruch wieder mehr in den Vordergrund. Seine grafische Ausbildung konnte Michel nicht verhehlen. Sie ist für seine Arbeit inzwischen von grossem Nutzen.
Das Fotografieren von Bäumen ist eine Kunst für sich. Baumfotos bleiben aufgrund deren Anatomie immer unscharf. Anders als bei Stillleben oder Architekturfotografien verliert man beim Fotografieren von Bäumen automatisch Tiefenunschärfe, weil man fast immer gezwungen ist, mit Weitwinkel zu fotografieren. Es hat Jahre gedauert, bis Michel wirklich verstanden hat, wie man Bäume fotografieren muss.
Heute gewinnen seine Fotos neben der dokumentarischen Arbeit immer mehr an Bedeutung. Männer und auch Kinder sind interessiert an Zahlen. Frauen hingegen wollen stimmungsvolle Bilder sehen. Fotos sind letztlich das Vehikel, mit dem Daten und Fakten an Dritte weiter vermittelt werden.
Faszination und Ehrfurcht
Michel ist begeistert von Kindern und ihren unbeschwerten Kommentaren, wie zum Beispiel eines Mädchens, welches einen Baum mit den Worten „Mann, ist der fett!“ kommentierte.
Er selber ist früher beim ersten Date mit einem Baumriesen immer ein wenig nervös gewesen. Heute ist er wesentlich routinierter und begegnet einem Baum mit zurückhaltendem Enthusiasmus. Unter Experten sind Begeisterungsstürme ohnehin verpönt und man wird schnell als Esoteriker abgestempelt. Manche Journalisten schrieben, er umarme Bäume. Das tut er aber höchstens beim Messen, weil es bisweilen nötig ist. Obwohl Michel bereits über 1000 Linden mit mehr als sechs Metern Umfang gesehen hat, berührt ihn der Anblick dieser Giganten noch immer zutiefst.
Ihn reizt die Vielfalt an Linden und wie diese über Generationen gepflegt wurden. Bäume werden aber auch verstümmelt und in ihrem natürlichen Wachstum gestört. Trotzdem schaffen sie es immer wieder, das Beste daraus zu machen und zu einer neuen Idealform zurück zu finden. Ein fünfhundertjähriger Baum hat Charaktereigenschaften, aus denen man viel herauslesen kann. Diese lebendige Anpassungs- und Schöpferkraft ziehen Michel immer wieder von neuem in seinen Bann.
Ein Baum mit kleinen Blättern
Von allen Bäumen, die Michel bislang gesehen hat, haben es ihm eine Esche in Schweden und insbesondere eine Eiche in Südengland am meisten angetan.
Wäre er selber ein Baum, so würde er die Wildnis einer Stadt vorziehen und am liebsten an einem abgelegenen Ort der Welt verwurzelt sein, wo kein Mensch Bäume verstümmelt und fällt. Er hätte kleine Blätter, wie zum Beispiel eine Birke oder Erle. Zu Rosengewächsen, wie Birnbaum oder Weissdorn, hat Michel ebenfalls einen besonderen Draht. Sie sind zäh und trotzdem nicht sperrig, sondern beweglich und machen Kapriolen.
Ein Erlebnis hat ihn besonders berührt. Michel wollte im Mai 2013 endlich die weltweit älteste Traubeneiche in England besuchen. Als er dort ankam, lag der 1500-jährige Koloss zu seinen Füssen. Er war drei Tage vor Michels Ankunft in sich zusammengebrochen. Die Blätter waren noch frisch. Michel konnte diese drei Tage im Verhältnis zu den 1500 Lebensjahren zuerst nicht fassen. Er nahm es letztlich mit Humor und fragte sich, ob die Eiche womöglich Angst hatte, seine Messungen könnten ihren Umfang schmälern.
Nicht ganz ungefährlich
Sein lustigstes Erlebnis mit einem Baum hätte durchaus tragisch enden können. Beim Erklettern einer Linde in Mecklenburg-Vorpommern ist Michel in den grossen Hohlraum gefallen. Er steckte brusttief im Mulm (zersetztes Holz) und konnte sich nicht mehr selber befreien. Sein Kollege, der in der Nachbarschaft eine Toilette suchte, hörte seine Hilferufe nicht. Dafür hörte ihn ein Junge, der ihm eine Leiter brachte.
Ein anderes Mal durchlebte er in zwölf Metern Höhe Todesängste, nachdem er in ein Hornissennest getreten war. Trotz der offensichtlichen Aussichtslosigkeit seiner Situation musste Michel plötzlich lachen. Vermutlich hat ihn das soweit wieder gelockert, dass er den Mut aufbringen konnte, sich auf den nächsten Ast weiter unten fallen zu lassen. Irgendwie schaffte er es bis ganz auf den Boden und fing an zu rennen, den Hornissenschwarm im Nacken. In seinem dicken Pullover hatten sich unzählige Hornissen verfangen, aber nur eine schaffte es, ihn zu stechen.
Warum Bäume vermessen?
Michel sieht seine Arbeit als einen Prozess. Es geht ihm in erster Linie darum, Bäume auszukundschaften. Er beschäftigt sich mit ihrem Wachstumspotential, misst deren Umfang und fotografiert sie. Manche Bäume besucht er immer wieder, um Veränderungen zu dokumentieren. Aus diesem ganzen Datenmaterial resultieren seine Bücher und Vorträge.
Diese Arbeit hat ihm aber auch schon grossen Ärger eingefahren. Als er und sein Begleiter mit Lageplänen in der Hand nach einem bestimmten Baum in Neuenstadt am Kocher in Baden-Württemberg suchten, wurden sie von Polizeiautos umzingelt und mit Handschellen abgeführt. Man hatte sie für schwer bewaffnete Bankräuber gehalten und glaubte ihnen nicht, dass sie Bäume sammeln und dafür volle Ordner mit Lageplänen mit sich führten.
Auf die Frage, warum man Lebensträume allen Hindernissen zum Trotz umsetzen soll, antwortet Michel mit der Gegenfrage: „Warum sollte man sie nicht umsetzen?“. Wir leben hier in der komfortablen Situation, dass wir nicht nur fürs Überleben arbeiten müssen. Wir können Dinge machen, die uns entsprechen. Das sollte man nutzen.
Michel braucht eine gesunde Mischung an Routinearbeit (messen und archivieren) und geistiger Arbeit, die ihn gedanklich auf Trab hält. Er war bereits als Schüler ein Rotierender, der im Schulzimmer zum Leidwesen der Mitschüler ständig den Platz wechseln wollte. Starre Muster waren und sind ihm ein Gräuel. So gesehen ist Michel in einer selbständigen Arbeit mit einem hohen Naturbezug tatsächlich am besten aufgehoben.
*** ende ***
PS: Vor einem Jahr bin ich auf das Wanderbüchlein „Wege zu Baumriesen“ von Michel Brunner gestossen. Weil ich selber eine ausgesprochene Baumfreundin bin, kaufte ich das Büchlein und wanderte damit durch die Schweiz. Als ich dann auch noch einen Blick auf die liebevoll gestaltete Webseite von Michel Brunner warf, wollte ich den Menschen kennen lernen, der hinter dem Ganzen steckt. Vor kurzem bot sich mir die Gelegenheit, Michel live in einem seiner Vorträge kennen zu lernen. Wir vereinbarten einen Interviewtermin. Und – wie könnte es anders sein – Michel führte mich danach noch in einen Park und spendierte mir einen Crash-Kurs im Vermessen einer alten Kaukasischen Flügelnuss.
Ein herzliches Dankeschön an Michel Brunner für das amüsante Interview am 17. Februar 2014 im Cafè des Amis in Zürich und die anschliessende Baumvermessung im Beckenhof-Park.
© Fotos und Text: Barbara Sorino, drei Fotos von M. Brunner sind speziell gekennzeichnet.
Webseite von Michel Brunner: www.proarbore.ch
Vorträge von Michel Brunner: http://www.vivamos.ch/pages/shows/baumriesen.php
Danke für diesen schönen Bericht und die Infos zu Michel Brunner und den tollen Bäumen.