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„Jugendliche geben mir Energie“

Der Eingang zur Lernwerkstatt an der Kreuzstrasse 6 in Herisau ist unscheinbar. Sobald man jedoch über die Schwelle tritt, taucht man ein in eine bunte, lebendige Welt. 2016 hat Luzi Parpan kurz vor seiner Pensionierung in einer ehemaligen Schreinerei diesen unkonventionellen Lernort für Jugendliche geschaffen.

 

 

 

Beziehungsarbeit mit Kopf, Hand und Herz

In der Lernwerkstatt gibt es allerlei Geräte und Zubehör für Schreiner- und Metallarbeiten. Es wird auch gemalt und gezeichnet. In jeder freien Ecke stehen und hängen Werkstücke und Bilder. Zwischen den Werkbänken gibt es sauber aufgeräumte Lern- und Diskussionsecken. Hier findet individuell abgestimmter Nachhilfeunterricht für Jugendliche in schwierigen Lernsituationen statt, mit Schwerpunkt Mathematik, Geometrie, Deutsch, Englisch und Französisch. Auch Coaching zum Thema „Berufsfindung“ wird angeboten. Luzi und seine Mitarbeiterinnen Monika, Chantal und Andrea arbeiten mit den Jugendlichen stets auf drei Ebenen: mit dem Kopf, mit den Händen und mit viel Herz.

Luzi empfängt mich – getreu seinem Namen – mit einem strahlenden Lächeln. Er bespricht gerade eine komplizierte Aufgabe mit einem Schüler. Dieser sollte eine dreidimensionale Würfeldarstellung auf ein grossformatiges Blatt übertragen. Luzis Frau Monika stösst dazu und der Junge flüstert mit hoch gestrecktem Zeigefinger: „Sie ist sehr streng!“ Dabei lächelt er und ich merke, dass er ihre Strenge durchaus schätzt. Als die Aufgabenstellung geklärt ist, verschwindet der Junge auf die Terrasse, wo ein grosses Brett mit einem karierten Blatt auf ihn wartet. Luzi muss noch ein paar Details mit seiner Frau besprechen, die gerade mit einer Schülerin „Joboxes“ bestückt und verpackt – eine Auftragsarbeit.

 

Dann hat Luzi Zeit für meine Fragen. Er lehnt sich zurück und geniesst es sichtlich, mir ausführlich von seiner beruflichen Karriere und seinem Herzensprojekt erzählen zu dürfen.

„Ist es das gewesen?“

Kurz vor der Pensionierung hat sich Luzi selber einige kritische Fragen gestellt: „Warte ich jetzt nur noch aufs Altersheim und den Tod? Soll ich Zeit mit Nebensächlichkeiten verbringen, wandern gehen, Velo fahren und meine Enkel hüten?“ Luzi war sich sicher, das kann es nicht gewesen sein!

Er wollte seine reichhaltigen Erfahrungen als Lehrer weiterhin nutzen und mit jungen Menschen arbeiten. Jugendliche sind für Luzi wie eine Batterie, an die er sich andocken kann, um abends wieder aufgeladen nach Hause zu gehen. „Im Grunde genommen bin ich ein antriebsschwacher Mensch“, bemerkt er, „ich muss aktiv sein und brauche etwas, das mich antreibt. Ein bisschen lesen und Boggia spielen reicht nicht!“

Luzi bezeichnet sich ausserdem als Macher und Dienstleister. Diese Eigenschaften hatten ihm bislang alle Türen geöffnet und am Ende habe er immer mehr zurückbekommen, als er investiert hatte. Die vielen Erfolgsgeschichten seiner ehemaligen Schützlinge und die Wertschätzung von verschiedenen Seiten bereichern ihn sehr.

Die Lernwerkstatt gibt ihm Halt und Sinn im neuen Lebensabschnitt. Wenn man jedoch mit Jugendlichen arbeitet, insbesondere in schwierigen Lebenssituationen, ist Vertrauen unabdingbar – sowohl in die Jugendlichen als auch in die eigene Person. In seinen Anfängen als Lehrer war das jedoch nicht immer der Fall.

„Ich war ein dämlicher Lehrer!“

Luzis erster Berufswunsch war Koch. Heute noch geniesst er die meditative Stimmung in seiner Küche und experimentiert gerne mit Lebensmitteln. Seine Mutter verbot ihm damals eine Kochlehre. Sie befürchtete, er könnte wegen seiner Affinität zu Frauen und Alkohol auf die schiefe Bahn geraten.

Da er auch gerne zeichnete, wurde er schliesslich Hochbauzeichner. Sein Ziel war Architekt, doch es mangelte ihm an den nötigen Visionen. Luzi realisierte, dass er eher technisch als künstlerisch begabt ist. Folgerichtig besuchte er das Abendtechnikum. Dann kam Luzi auf die Idee die Erwachsenenmatura nachzuholen. Zum damaligen Zeitpunkt herrschte Lehrermangel. Nach der ersten bestandenen Teilprüfung nutzte Luzi die Gelegenheit und stieg in einen verkürzten Lehrgang zum Primarlehrer ein. Im Anschluss absolvierte er noch die Ausbildung zum Sekundarlehrer. Luzi macht keinen Hehl daraus, dass er diesen Schritt nur mit Hilfe seiner Frau Monika geschafft hat, die ihm bei schwierigen Mathematikaufgaben zur Seite stand. Ein klein wenig schämt er sich heute noch für diese Schwäche.

Luzi unterrichtete zunächst eine Realschulklasse, ging dann an eine öffentliche Berufswahlschule und belegte einen Lehrgang zum Berufswahllehrer. Als die SBW („Haus des Lernens AG“) 1998 in Herisau ein privates Berufswahljahr plante, wurde Luzi gefragt ob er beim Aufbau helfen könnte. „Ich stellte drei freche Bedingungen“, erzählt Luzi mit einem verschmitzten Lächeln, „und forderte ein eigenes Büro, einen PC und Drucker für mehrere Tausend Franken und eine Anstellung für meine Frau Monika“. Es wurden ihm sämtliche Wünsche sowie der gleiche Lohn wie an der öffentlichen Schule zugesichert. Diesem schmeichelhaften Ruf konnte Luzi nicht widerstehen und so wechselte er an die private SBW, wo er zehn Jahre 3.Sekundarklassen unterrichtete und drei Jahre die Verantwortung für das „Lernhaus“ innehatte.

In seinen Anfängen als Lehrer zweifelte Luzi an seinen pädagogischen Fähigkeiten und im Lehrerkollegium herrschte die Meinung, Jugendliche seien per se schwierig und verdorben. Der Rhythmus an der SBW war extrem hoch und das Unterrichten begann ihn auszulaugen. Luzi erkannte, dass er seine „dämliche“ Grundhaltung den Schülern und sich selber gegenüber verändern musste. Er buchte spontan einen Kurs in Suggestopädie, in dem Luzis Selbstbild und Menschenbild komplett auf den Kopf gestellt wurde: „Der Kursleiter zeigte mir, was für ein wertvoller und guter Mensch ich bin.“ In der Folge warf er alle Vorurteile sich selber und Jugendlichen gegenüber über Bord und konzentrierte sich nur noch auf das Potential, das in jedem Menschen schlummert. Seine Schüler und Lehrerkollegen reagierten zunächst irritiert auf diesen Sinneswandel, merkten aber rasch, dass es Luzi ernst war.

„Suche nicht nach Hindernissen!“

Lachend erinnert sich Luzi, wie innerhalb der Lehrerschaft ein geflügeltes Wort für seine eigenartige Haltung kreiert wurde: „Sie bezeichneten mich als ,Irritation für viele‘“. In der Tat habe er immer nach unkonventionellen Lösungen gesucht – frei nach dem Motto „Suche nicht nach Hindernissen, vielleicht gibt es nämlich gar keine“. Ähnlich wie Dali, von dem einige Bilder als Kopie in der Lernwerkstatt hängen, versucht Luzi stets alles zu spiegeln, von verschiedenen Seiten zu betrachten und Dinge anders anzugehen.

Luzi sucht nie nach einem Grund, warum man etwas nicht machen sollte, denn man findet seiner Meinung nach immer einen Grund, warum man etwas doch machen sollte. An der SBW und auch heute in der Lernwerkstatt habe immer dieser Geist geherrscht.

Er erinnert sich an seinen ersten Schüler in der Lernwerkstatt, der ihm von einer Jugendpsychiaterin zugewiesen wurde. Der Jugendliche besuchte die Montessori-Schule und wurde dort inhaltlich zu wenig gefördert. Sein schulischer Stand entsprach bei weitem nicht dem Niveau der Maturitätsschule, die er anstrebte. Beim ersten Treffen wirkte er auf Luzi wie ein wissbegieriger, ausgetrockneter Schwamm. Der Junge verbrachte auf eigenen Wunsch nur einen Tag pro Woche in der Lernwerkstatt und lernte zu Hause eigenständig weiter. Nach nur sechs Monaten war dieser Schüler bereit und bestand die Aufnahmeprüfung – eine ungeheure Leistung!

„Manchmal streiten wir wie die Raben“

In einer Ecke der Lernwerkstatt steht eine weisse Leinwand – Luzis Lieblingsbild und Sinnbild für seine Grundhaltung den Schülern gegenüber: vorurteilsfrei, neugierig und offen. Er ist überzeugt, dass sich deren Wesen und Potentiale eines Tages offenbaren werden. Das erfordert von ihm eine ausgeprägte Motivation, sich auf eine längere Eins-zu-eins-Beziehung mit orientierungslosen jungen Menschen einzulassen. Es braucht zudem gegenseitige Loyalität und Verbindlichkeit. Doch „manchmal muss man streiten wie die Raben“, schmunzelt Luzi, „bevor sich eine vertrauensvolle Beziehung entwickeln kann.“ Einen Strafenkatalog sucht man in der Lernwerkstatt vergeblich. Auf den Fehlern der Schüler wird nicht herumgeritten. Stattdessen zeigt Luzi auf einen arabischen Schriftzug, der so viel bedeutet wie: „der liebste Meister und Lehrer“.

Damit unterstreicht Luzi die Bedeutung seiner Vorbildwirkung, was beispielsweise beim Thema Ordnung zum Tragen komme. In einer Werkstatt gehören Putzen und Aufräumen zur Tagesordnung. Das muss den Jugendlichen vorgelebt werden. Er ist ständig darum bemüht Ordnung zu halten und am Freitag wird gemeinsam mit den Jugendlichen aufgeräumt.

Jedes Ding an seinem Ort, erspart viel Müh und böse Wort!

Dieser Lieblingsspruch seiner Mutter hat sich früh in Luzis Gedächtnis gebrannt. Entsorgen und Aufzuräumen erzeugen in ihm das Gefühl, ein aufgeräumter Mensch und mit sich selber im Reinen zu sein. Mit hoher Wahrscheinlichkeit überträgt sich dieser Zustand auch auf seine Schüler, die mit seiner Hilfe Schritt für Schritt Ruhe und Ordnung in ihr Leben bringen wollen. Sie haben auf dieser Lernreise jederzeit die Zügel in der Hand. Luzi lässt sich dabei gerne von dieser jugendlichen Kraft anstecken und sorgt so für Spannung und Abwechslung im Pensionsalltag – eine clevere Idee mit nachhaltiger Wirkung für beide Seiten.

*** Ende ***

Informationen zur Finanzierung:

Kosten für Lernende, die von sich aus in die Lernwerkstatt kommen, um zum Beispiel auf eine Prüfung zu lernen, tragen die Eltern. Wenn Jugendliche die Lernwerkstatt als Ersatz für die öffentliche Schule wählen, dann bezahlen ebenfalls die Eltern, allenfalls mit Unterstützung der Gemeinde. Die Kosten für ein „Time-in“ werden von den zuweisenden Stellen (Gemeinde, Soziale Dienste etc.) übernommen.

Weitere Informationen zur Lernwerkstatt Herisau: www.lernwerkstattherisau.ch

Webseite der SBW: https://www.sbw.edu (Die SBW ist seit Sommer 2018 nicht mehr aktiv in Herisau)

Herzlichen Dank an Luzi Parpan, seine Frau Monika und die anwesenden Schüler und Schülerinnen für den spannenden Einblick in die Lernwerkstatt Herisau und das Interview am 16.8.2018.

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