Auf Umwegen zum Künstler

Vorbemerkung: Bei den hervorgehobenen Passagen handelt es sich um Zitate aus dem Interview sowie um Auszüge aus persönlichen Aufzeichnungen von Thomas Payr.
Es waren einige Jahre und Umwege nötig, bis Thomas seinem künstlerischen Talent freien Lauf liess. Neben dem Künstler erwachte in ihm auch ein Philosoph – und ein Clown.
Aus den Nebeln zurückgelassener Dezenien drängen sich schemenhaft Ereignisse folgenschwerer Entscheidungen. Gelebte Augenblicke reflektieren trügerisch Bilder der Vergangenheit zu künftigen Wirbeln im Fluss des Lebens. Kirchgasse 15, ein Hahnenschrei entfernt von der Dorfschule, im Blickfeld der Kirche. Wiesen, Obstbäume und dichte Nachbarschaft mit reichem Kindersegen, so weiss ich es bis heute.
Dort, in Altenstadt, in Vorarlberg (Österreich), wurde Thomas Payr 1940 geboren. Er tat den ersten Schrei, sein Zwillingsbruder folgte ihm. Beide waren schwach und kränklich. Ihre blutjunge, auf einen Schlag dreifache Mutter war nicht unbedingt froh. Es herrschte Krieg. Ihr Mann war an der Front im hohen Norden und Alltagssorgen quälten sie. Der Arzt meinte, wenn es der Thomas schaffe, dann gebe es einen starken Bub. Tatsächlich, mittlerweile ist Thomas 72 Jahre alt. Man glaubt es ihm kaum angesichts seiner jugendlichen Offenheit und Fitness.
In aller Bescheidenheit, Julius Payr, der Nordpolforscher, ist nicht aus unserer Familie! Er stammt aus verarmten Adel, der sich in der K&K-Monarchie als Superorganisator für Expeditionen beim Adel breit gemacht hat.
Und schon sind wir mitten im Thema. Thomas betont, man müsse auf dem Boden bleiben in der Ahnengalerie. Das, was man ist oder was man erreichen will, sollte man sich selber erschaffen. Einen Gedanken später stecken wir noch tiefer in seiner Welt, der Kunst. Eine Skizze, sinniert Thomas, sei erst eine Vorstufe zum Bild. Sie ist noch unverbindlich. Er könne das, was er mache, nicht aus dem Ärmel schütteln. Er müsse es sich erarbeiten.
Und wenn man einige Jahre auf dem Buckel hat, wird es zur Last. Einer sagte mal: „Der Mensch wird anatomisch zum Kreis“. Die Perspektive wird dadurch eine Neue, erdverbundener. Einsicht stellt sich ein. Ruhe. Und Dankbarkeit.
Während Thomas so spricht, krümmt er sich zu einem Kreis, lacht sein rollendes Lachen, richtet sich wieder auf und zeigt mir eine Skizze, die seine Worte im wahrsten Sinne des Bildes auf den Punkt bringt.
Vor dieser körperlichen Veränderung hin zum Kreis liegen mehr als sechs Jahrzehnte, in denen der Samen der Kunst in Thomas fruchtbaren Boden fand, keimte, dann einige Jahre eher zaghaft spriesste, und schliesslich empor schoss, der Farbe und dem Licht entgegen, immer weiter in verschiedenste Richtungen wachsend und tief im Boden nach Wurzeln suchend.
Zum Schlüsselerlebnis, wofür ich dem Goldkehlchen Liene (Solosängerin in der Grossglocknerkapelle) heute noch in der Krida bin, wurde ihr nobles Geschenk: Sie machte mich zum stolzen Besitzer des ersten riesigen Malkastens, Marke Faber Castell. Dazu gab es grossformatige Zeichenblöcke.
Damals war Thomas acht oder neun Jahre alt. Die sechs Mini-Farben, die ihm der Nikolaus kurz zuvor gebracht hatte, liessen ihn kalt. Zu stümperhaft erschienen sie ihm. Er verkroch sich mit den grossen Farben und Blöcken im oberen Stock, wo die Grossmutter wohnte. Dort explodierte er im Farbenrausch. Es war eine Gewalt, die ihn dazu trieb, mit Farben zu verarbeiten, was sein Leben alles mit sich brachte.
Während sich der Radius seiner Interessen erweiterte, erntete Thomas – mit Ausnahme von seiner Grossmutter („Mai, unser Bub malt!“) – nur Unverständnis. Trotzdem zog es den Kleinen immer wieder zum Bücherregal seines belesenen Vaters, wo er eines Tages ein Skizzenbuch seines Grossonkels Johann Hanser entdeckte.
Ein Juwel fiel ihm da in die Hände, woran aber nur er Gefallen fand. Sein Zwillingsbruder hatte keinerlei Interesse an den kolorierten Graphitzeichnungen, den flüchtigen Scribbles von Madonnen und Heiligen, Stil-Leben und Notizen. Die Neugier schlummerte ja schon lange in ihm, aber nun wollte auch der Wunsch genährt werden, etwas Gesehenes aus der persönlichen Sichtweise heraus zu interpretieren und daraus etwas Neues zu kreieren. Ein Sonnenuntergang oder ein Baum war und ist für Thomas lediglich eine Vorgabe, eine Versuchung, die ihn reizt, die eigene Betrachtungsweise mit Stift und Pinsel sichtbar zu machen.
Es überrascht mich nicht, beim Vater dasselbe Erbgut zu beobachten. Seine Kritzeleien, Telefonzeichnungen und „Grabgeschichten in Bleistift“ zeichnen sich wie Runen in mein Ästhetik-Empfinden.
Dieser Vater, ein Kriegsheimkehrer und Überlebender des Tausendjährigen Reichs, zauberte wunderschöne Schriftzüge aufs Papier. Thomas erblickte darin genetische Spuren, die er gerade in sich selber wahrzunehmen begann. Doch allem kreativen Drang zum Trotz prophezeite ihm der Vater ein brotloses Leben als Künstler. Schliesslich galt es nach wie vor als höchstes Gut, eine Familie zu gründen und auch ernähren zu können.
Thomas verspürte als Gymnasiast noch keine Lust für ein Studium. Er zog es zunächst vor, in einer Nudelfabrik sein Geld zu verdienen. Dann arbeitete er vier Jahre bei der Post, wo bereits die halbe Familie Payr arbeitete, inklusive seinem Vater. Angeblich ein sicherer Ort, den Thomas aber von Anfang an als zu kontrast- und farblos empfand. Seine Sehnsucht nach Wissen und Kreativität keimte wieder auf.
Neun Monate im Soldatenkleid des Funkers in Siezenheim, Salzburg. Kurz – lang – kurz – kurz – kurz – in endlosen Melodien von Funksignalen erkenne ich die ersehnte Richtungsänderung auf der Berufsschiene.
Thomas, inzwischen 21 Jahre alt, schmiss alles hin und drückte wieder die Schulbank. Er holte an der Aufbaumittelschule Horn in Niederösterreich die Matura nach. Es zog ihn an die Kunstakademie in Wien. Doch zunächst schrieb er sich an der Fakultät für Soziologie und Wirtschaft ein. Dieser Schritt versprach mehr Boden unter den Füssen, aber nach vier Semestern musste Thomas aus finanziellen Gründen kapitulieren. Er flüchtete zurück nach Innsbruck, geradewegs in die Arme der altbekannten Post. Dieses Mal verschlug es ihn immerhin in einen Direktionsposten. Doch auch diese Funktion entsprach letztlich ganz und gar nicht seinem Naturell. In all diesen ernüchternden Berufsjahren suchte Thomas an jedem freien Tag Zuflucht in Kunstseminaren. Dort begegnete er einem profunden Professor, der ihn immer wieder ermunterte, Kunst zu studieren und so sein Glück zu finden. Doch zuerst lief ihm die Liebe über den Weg.
Mit 29 verliebt, mit 30 verlobt und mit 31 Jahren verheiratet. Die Liebe wird zum Prisma, zum Farbenrausch im Reflex glücklichen Lichts, zum Zauber von Harmonie.
Im Flutlicht der Liebe gelang Thomas ein zweites Mal die Flucht aus dem monotonen Leben in der Post. Frisch verheiratet machte sich das junge Ehepaar mit seinem wenigen Hab und Gut auf nach Essen. Thomas inskribierte an der Folkwanghochschule und begann endlich sein heiss ersehntes Kunststudium. Er arbeitete nebenher und räumte wie ein Maulwurf etappenweise Hindernisse aus dem Weg. Begeistert betrat Thomas kreatives Neuland und die Zahlenschlangen, die ihn in der Post zu erwürgen drohten, verblassten langsam.
Typographie, Illustration, Radierung und das breite Oevre klassischer Disziplinen gehen in einer spontanen Intensität auf. Ich bin nun Komponist von Farbklängen und Tonintervallen im keimenden Grün eines spriessenden Kunstfrühlings.
In der Kunst begegnet Thomas einer ewig Unbekannten. Er liebt leere, weisse Blätter. Sie fordern ihn heraus. Er füllt sie und greift sofort zum nächsten weissen Blatt. Stillstand und Stagnation sind ihm zuwider. Über ein fertiges Bild kann er nur noch diskutieren oder es Jahre später nochmals übermalen. Diese stete innere Unruhe ist für ihn wie die Luft, die er zum Atmen braucht. Die Kunst erlaubt es ihm, in Möglichkeiten zu leben. So bleibt immer etwas übrig und immer etwas zu tun.
Ich bin nicht zum Arbeiten geboren!
Wobei – das Ausräumen der Hindernisse auf dem Weg zum Ziel war die grösste Arbeit und ist es immer noch. Eine Lebensaufgabe. Diese konsequente Zielverfolgung ist für Thomas nicht nur ein Geschenk, sondern auch eine Hypothek. Unzählige Fragezeichen säumen bis heute den eingeschlagenen Weg. Die allergrösste Hürde sieht Thomas in der Suche nach Anerkennung seines künstlerischen Könnens, welches darin besteht, ein künstlerisches Problem gelöst zu haben. Doch hätte er alle diese Mühen und Unsicherheiten nicht auf sich genommen, wäre er dem Leben etwas schuldig geblieben. Denn, wenn das Leben einen mit einem Talent versieht, muss man es seiner Meinung nach leben. Man muss diese Geister wecken. Sie werden einen ohnehin nie in Ruhe lassen.
Kunst ist ein Privileg der freien, kraftvollen Gestaltung. Gleich der Natur braucht Kreativität das Wachsen in der Stille, den Reifeprozess abseits von Turbulenz. Materielle Termini züchten gefällige Effizienz, verleugnen den Seelenhauch. Sie vermissen die Reformkraft der Kultur.
Kunst schaffen bedeutet für Thomas, sich in aller Freiheit mit einem Thema auseinanderzusetzen, über Linie, Farbe und Komposition. Diese Überlegungen brauchen Zeit, Geduld und Disziplin. Neben objektiven Erfahrungswerten und wissenschaftlichen Kenntnissen spielt das subjektive Erleben eine entscheidende Rolle. Rot ist nicht gleich Rot. Für die Einen bedeutet es Gefahr, für andere Blut, Hindernis, Zorn oder Begeisterung. Bilder beinhalten Botschaften. Sie sind Kreationen persönlichster Natur, die etwas visualisieren. Thomas möchte mit seinen Bildern etwas erzählen. Wenn der Betrachter versteht, was er sich gedacht hat, dann stellt sich bei ihm ein Gefühl von Erfolg ein.
Ein Credo an die Heimat! Schön finde ich sie, weil ich sie liebe.
Die perfekte und strenge deutsche Gangart wurde dem Ehepaar schnell zur Last. Thomas kehrte mit seiner Frau zurück nach Österreich. Aus Dankbarkeit seinen eigenen Lehrern gegenüber, stieg Thomas in den Lehrerberuf ein und sah fortan seine Mission darin, jungen Leuten dieses Glück näher zu bringen, von der Kunst zu leben. Viele Jahre unterrichtete er an Mittelschulen, an der Glasfachschule in Kramsach und an künstlerischen Berufsfachschulen. Er schulte ausserdem Designer grosser Firmen wie Swarovski.
Die Familie, Quelle des Lebens. Meine Söhne, Simon und David, sind die sprudelnden Wasser einer erfrischenden Generation.
Seine Grundhaltung, dass jeder Mensch frei und kreativ sein Leben gestalten soll, lebte Thomas auch in der Erziehung seiner beiden Söhne. Ihre eigenständige Entwicklung erfüllt ihn mit Freude und Stolz. Den Einen zog es in die weite Welt und den Anderen zur Fotografie. Für Thomas selber aber schliesst sich langsam der Lebens- und Schaffenskreis.
Ich habe Jahre gesammelt. Es drängt mich heute nicht mehr so sehr zum Arbeiten. Das meiste ist schon gemalt. Da kommt es auf das eine oder andere Bild auch nicht mehr an. Ich werde runder und langsamer. Und der Clown in mir erwacht. Der Humor ist das letzte und komischste Mittel in der Ausweglosigkeit des Lebens, einen kreativen Ansatz zu finden.
Unter der Maske des Clowns fühlt er sich frei und zeitlos. Humor und Tristesse liegen für ihn nahe beinander. Wenn er sage, er tue ein wenig „mölala“, dann arbeite er im Grunde an seinem Denkmal. Seine Bilder erlebt er wie Kinder, die nun flügge werden und sich abnabeln. Mit jedem gemalten Bild lässt Thomas etwas los, das ihn in Versuchung gebracht hat, sich als Künstler dazu zu äussern. So gesehen ist Malen für Thomas immer auch ein Abschied, der stets verbunden ist mit reiner Freude am Tun.
*** ende ***
PS: Biologisch gesehen teilen Thomas und ich denselben genetischen Pool. Sein Vater ist mein Grossvater. So verwundert es nicht, dass wir beide auf unsere je eigene Art das Licht suchen und uns gerne auf künstlerische Art und Weise ausdrücken. Es hat jedoch Jahre gedauert, bis ich meinen „Künstleronkel“ als solches wahrgenommen habe. Ich schätze seine kompromisslose Haltung, wie er sich selber, seinen Söhnen und überhaupt allen Menschen zu verstehen gibt, sie sollen das tun, wozu sie am meisten Ambitionen verspüren. Ihm glaubt man es auf Anhieb, dass einen diese Geister ohnehin immer wieder heimsuchen, wenn man sie zu ignorieren versucht. Thomas lebt sein Leben und hat sich für das Glück der Freiheit entschieden. Davor ziehe ich meinen Hut!
Ein Dankeschön an Thomas Payr für das amüsante und in vielerlei Hinsicht erhellende Interview am 30. März 2013 in Feldkirch.
Tauchen Sie ein in eine farbensprühende Welt: http://www.thomas-payr.at
Text und Fotos: Barbara Sorino
Die hervorgehobenen Zitate und Textausschnitte stammen von Thomas Payr.
Danke Barbara….für diesen tollen und zu Herzen gehenden Beitrag! 🙂 Petra
Ein mutiger, menschlicher Mann, Dein Künstleronkel. Ihr beide macht das ausgezeichnet 🙂 Ursula
Liebe Barbara !
Ich, Adi Pranz, finde diese Lebensgeschichte meines einzigen Freundes hervorragend.
Wir kennen uns seit der gemeinsamen Militärzeit beim Österreichischen Bundesheer.
Nach Jahren habe ich ihn gesucht und gefunden.
Herzliche Grüße, Adi
Farbenfrohe, intensive Bilder – Zeugen eines solchen Lebens!
Ein wertvoller Beitrag für eben einen solchen Menschen.
Wunderbare Botschaften.
Dank an die Verfasserin, dank an Thomas, dass es ihn gibt.
Eva aus Kals
Ein sehr berührendes sprachliches, biografisches und malerisches Gemälde, in dem ich meinen früheren Freund Thomas nach vielen jahren ohne Kontakt in mir wieder erstehen lassen konnte. Berührend und staundend las und schuate ich. Einfach schön, sehr geehrte Frau barbara