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Ein Coach mit Herz und Biss

Vor zwei Jahren hat ihm sein Herz beinahe einen Strich durch die Lebensrechnung gemacht. Aber Jürg Wyss ist dem Teufel erneut vom Karren gefallen – zum fünften Mal in seinem bewegten Leben, erzählt er und lacht. Sein Biss und Wille, die Welt kleiner Unternehmer zu verbessern, sind ungebrochen und verdienen grossen Respekt.

Die Ärzte sind ratlos. Wie konnte es überhaupt zu diesem Herzkollaps kommen, wo er doch kurz davor einem gründlichen Gesundheitscheck unterzogen wurde? Und wie konnte Jürg das Kammerflimmern angesichts einer einprozentigen Überlebenschance und ohne Hirnschädigung überleben?

Profile August 2013

Zu dem Zeitpunkt, als er aus dem Koma erwachte, stolperte ich auf Twitter über auffallend viele Tweets, in denen sich verschiedenste Leute Sorgen um einen gewissen Jürg Wyss machten: Wo steckt Jürg? Weiss jemand, was mit ihm los ist? Ich verfolgte neugierig die virtuelle Suche nach einem offensichtlich äusserst beliebten Twitterer. Dann meldete sich der Gesuchte endlich, verkündete seine Auferstehung von den Fasttoten und brachte seine immense Dankbarkeit dem Leben gegenüber zum Ausdruck. Ich war beeindruckt.

Jürg

Zwar kann Jürg nicht von einem Nahtoderlebnis mit gleissenden Lichtern und abenteuerlichen Tunnelerlebnissen auf dem Weg ins Jenseits berichten, aber er blickt dafür auf ein intensives, erfolgreiches (Berufs-)Leben zurück. Ausserdem hat er noch grosses vor bzw. steckt mitten drin: ein Pilotprojekt auf den Philippinen, wofür er im Moment mit bewundernswertem Eifer und Hartnäckigkeit die Werbetrommel rührt. Spätestens an diesem Punkt war mir klar, dass Jürg eine wichtige Botschaft in sich trägt, über die es sich lohnt zu berichten: Warte nicht, bis dich der Teufel holt! Tu, was du für richtig und wichtig erachtest und gib dem Leben, das dich so reich beschenkt, etwas zurück!

Jürg hatte in der Tat viel Glück im Leben. Er wurde im achten Monat per Kaiserschnitt geboren, mit Unmengen Blut durchgespült und war das zweite Rhesuskind in der Schweizer Geschichte, welches diese Rosskur überlebte. Mit vier oder fünf Jahren kam er im Lombach bei Interlaken unter eine Wasserwalze und wurde im letzten Moment gerettet. Eine endlose Reihe an Zufällen und Hindernissen führte dazu, dass er 1998 die Unglücksmaschine, die über Halifax abstürzte, nicht rechtzeitig erreichte. Und hätte er im März 2001 nicht seinen Job bei Compaq gekündigt, wäre er an 9/11 in einem Meeting im World Trade Center gesessen und unter Schutt und Asche begraben worden. Aber Jürg lebt und hat seit einer glücklich verlaufenen Nachoperation im Mai nun endlich die Gewissheit, dass sein Herz wieder putzmunter schlägt.

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In seinen Anfängen bezeichnet sich Jürg als „Bünzlischweizer“ (übersetzt: Spiessbürger), der in bescheidenen Verhältnissen aufwuchs, ein Studium in Geografie und Geschichte begann und Gymnasiallehrer werden wollte. Doch mit 22 Jahren merkte er, dass ihn dieser Weg nicht glücklich macht. Er kehrte der Universität den Rücken, stieg ohne Diplom ins Erwerbsleben ein, und war einer jener, die mehr zufällig und learning by doing in die Informatikbranche hineinwuchsen. An der Universität machte er zwar im Fach Geografie erste Gehversuche im Programmieren, aber so richtig in Berührung mit modernen Kommunikationstechnologien kam er erst durch diverse Jobs bei namhaften, international tätigen Grossfirmen – allesamt Giganten, denen er heute ein weit verzweigtes Netzwerk, ein in alle Richtungen offener Geist und ein feinfühliges Kulturverständnis zu verdanken hat.

Er arbeitete unter anderem bei Hasler AG in Bern (heute Ascom), wo er an der ersten IBM-Computer-Einführung in der Schweiz beteiligt war. Bei der Schweizer Volksbank, die später von der Credit Suisse übernommen wurde, war er seinerzeit mit 26 Jahren der jüngste Unterabteilungsleiter mit Prokura-Funktion in der Schweiz und befasste sich mit dem Auf- und Ausbau des E-Mail-Verkehrs und des elektronischen Archivs. Er arbeitete zudem für Firmen, die nach der Öffnung der Grenzen in Osteuropa Informatiksysteme für Banken verkauften. Sein Flair fürs Verkaufen und Beraten kamen so voll und ganz zum Tragen. Ausserdem wurde er auf den Reiz anderer Kulturen aufmerksam.

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Sein ganzes Berufsleben hat Jürg neue Märkte erschlossen, Neues aufgebaut und Altes in Frage gestellt. Seine Stellensuche hat er auch immer danach ausgerichtet. Er wäre nach eigenen Angaben niemals ein guter Leiter eines Rechenzentrums geworden. Wenn das Unbekannte winkte, war Jürg zur Stelle und ein gefragter Mann. Es gab Zeiten, in denen er Millionenprojekte zu verantworten hatte und dabei mehr als ein Bundesrat verdiente. Als Global Account Manager bei Digital Equipment Cooperation (DEC) begann schliesslich seine Odyssee um die ganze Welt. Er rechnete einmal aus, dass er insgesamt 3000 Nächte in Hotels verbrachte, 53 Länder bereiste und in 45 Ländern Informatikverträge, vornehmlich für die UBS, verhandelte.

Kein Wunder dass ihm damals sein soziales Netz in der Schweiz sukzessive abhanden kam. Um dem entgegen zu wirken, entschloss er sich für die Selbständigkeit und gründete eine Headhunterfirma, die er später wieder verkaufte. Er hatte bereits zuvor Luft als selbständiger Bankenberater in Osteuropa geschnuppert. Aber sein „Teamer-Herz“ drängte ihn immer wieder zurück in eine Anstellung. Seit vier Jahren hat Jürg erneut in die Selbständigkeit gewechselt (www.adwyse.ch). Sein leistungsorientiertes Leben ist für ihn abgeschlossen. Ganz bewusst hält er seine Mandatszahl niedrig und sein Arbeitspensum bei circa 50 Prozent. Von der Beratung grosser Firmen ist er abgekommen. Er konzentriert sich nun auf Kleinunternehmen mit maximal neun Mitarbeitern. Sein aktuelles Geschäftsmodell hat er den französischen Bauern abgeschaut, die damit ein regelmässiges Einkommen erzielen konnten. Jürg verlangt einen monatlichen Pauschalpreis für unbegrenzte Coachingsstunden. Dank moderner Medien (Skype, E-Mail, Handy, Facebook) ist er zeitlich maximal flexibel und kann seine Kunden auch am Sonntagabend beraten, wenn diese am nächsten Tag ein wichtiges Verkaufsgespräch haben. Mit einem gesunden Branchenmix sorgt er für Methodenvielfalt und Ideentransfer und verhindert Interessenkonflikte. Sein Wirken umschreibt Jürg mit den einfachen Worten, er helfe motivierten und entschlossenen Geschäftsleuten individuelle Geschäftsmodelle zu entwickeln und ihre Umsätze in den Griff zu bekommen.

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Seine Beratungsfirma funktioniere nur, weil er älter sei, meint Jürg. Er könne methodisch und erfahrungsmässig aus dem Vollen schöpfen und sei kein blutjunger Familienvater mehr mit hohen finanziellen Verpflichtungen. Ausserdem fühle er sich der nachwachsenden Generation als Mentor verpflichtet. Dieses Engagement weitet er, ganz der Weltenbürger, bewusst über die Grenzen der kleinen Schweiz aus. Sein Herzblut vergiesst er zur Zeit für junge Menschen auf den Philippinen, die eine Geschäftsidee haben und damit ihr Leben selbst in die Hand nehmen wollen. Jürg konzentriert sich dabei auf Menschen „am oberen Rand der Armut“. Denn seiner Meinung nach provoziere man nur Spannungen, wenn man lediglich ein paar der Ärmsten herauspicke. Aber wenn man einigen weniger Armen unter die Arme greife, dann können diese mit ihren Unternehmen den noch ärmeren helfen oder ihnen sogar Jobs anbieten.

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Mit Asien fühlt sich Jürg schon lange verbunden. Er ist mit einer gebürtigen, inzwischen eingebürgerten Chinesin verheiratet und hat sich auf seinen vielen Reisen in die asiatische Kultur verliebt. Wenn man unsere und deren Kultur anhand der Maslowschen Pyramide vergleiche, so stehe bei uns die Selbstverwirklichung zuoberst und in Asien die Harmonie. Das habe ihm immer schon unbewusst zugesagt. Vor vielen Jahren zog er sich an einen entlegenen Flecken auf den Philippinen zurück und lebte eine zeitlang ohne Strom und Internet. Nach seiner Rückkehr in den alten Berufsstress merkte er, dass etwas nicht mehr stimmte. Die Arbeitsbedingungen verschlechterten sich und er fühlte sich in seinen gewohnten Kompetenzen zunehmend beschnitten. Fast unmerklich schlitterte er in ein Burnout. Es liegt nahe, dass diese Erlebnisse mit eine Rolle bei der Auswahl der Philippinen für sein laufendes Pilotprojekt spielten.

Die jüngste Geschichte mit dem Herzen war nicht der Auslöser für sein Engagement, sondern vielmehr ein Beschleuniger. Seine Frau habe ihm nahegelegt, es jetzt zu tun und nicht bis zur Pensionierung zu warten. Jürg schwärmt für ihre andere Art zu denken, erstens weil sie eine Frau sei und zweitens weil sie im Grunde ihres Herzens immer noch Asiatin sei (und hoffentlich immer bleiben werde, betont er). Dass er überlebt hat, sieht Jürg als ein Zeichen noch etwas auf dieser Erde erledigen zu müssen. Er betrachtet sein Projekt als ein gelebtes Dankeschön an die vielen Glückssträhnen in seinem Leben. Mit dem Projekt will Jürg beweisen, dass es funktioniert Kleinunternehmer mit Knowhow und Mikrokrediten auf die Sprünge zu helfen. Er möchte ältere Geschäftsleute dazu ermutigen, es ihm gleichzutun und sein Konzept auch in anderen Ländern umzusetzen, anstatt in der eigenen Komfortzone zu verharren und weiter Geld anzuhäufen.

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Trotz vieler kritischer Stimmen im Bekanntenkreis fällte Jürg 2014 den Entscheid und startete mit einem Blog. Sein ursprüngliches Zielland war Thailand, doch im Rahmen eines Augenscheins vor Ort stellten sich die politischen Strukturen als äusserst ungünstig heraus.

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Er reiste weiter auf die Philippinen. Dort stellte er Sherly als seine Stellvertreterin ein, redete mit Anwälten und recherchierte wie er seine Idee mit den Mikrokrediten umsetzen kann. Mit einer konkreten Idee reiste er zurück in die Schweiz. Während Sherly erste Interviews mit interessierten Kreditanwärtern führte, kümmerte sich Jürg um das Crowdfunding. Auch bei diesem Schritt stiess er immer wieder auf Skeptiker, von denen er sich jedoch nicht ablenken liess. Die geplanten 26.900 Euro kamen zusammen, nicht zuletzt durch den faszinierenden Ideenreichtum einiger Spender. Mit dieser Summe können circa 5-7 Personen ins Programm aufgenommen, ein Lohn für Sherly ausbezahlt, ein Jurist für die Mietkaufverträge engagiert und die Spesen für Jürg bezahlt werden.

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Anfang September reist Jürg erneut auf die Philippinen. Er wird Interviews mit den 23 Kandidaten führen, die im Vorfeld aus 50 Anmeldungen ausgewählt wurden – und zwar von den Grossspendern höchstpersönlich. Die Ergebnisse (Beweggründe, Fähigkeiten etc.) werden erneut den Spendern zur Ansicht vorgelegt, die wiederum ihr Votum für die 5-7 definitiven Kandidaten abgeben dürfen. Mit diesem Vorgehen stellt Jürg sicher, nicht erpressbar zu sein. Mitte Oktober findet ein 14-tätiges Ausbildungscamp auf den Philippinen statt. Darin werden die ausgewählten Geschäftsmodelle ausgebaut, Einkaufslisten erstellt und Einkäufe getätigt. Jürg persönlich wird diese beaufsichtigen. Mit Hilfe eines Juristen werden Mietkaufverträge mit den Kandidaten abgeschlossen. Bis die Mikrokredite zurückbezahlt werden, bleiben die Wareneinkäufe Jürg`s Eigentum.

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Seine Stellvertreterin Sherly ist übrigens fix gesetzt als Kandidatin. Sie wird ein kleines Handelsunternehmen mit Kokosprodukten aus ihrer Provinz aufbauen. Darin zeigt sich sein ausgeprägter Sinn für Synergien und win-win-Situationen. Sherly kann so endlich etwas Sinnvolles mit ihrem Highschoolabschluss anfangen, was auf den Philippinen selten möglich ist. Den meisten fehlt dafür das nötige Startkapital.

Jürg schöpft aus diesem Projekt und aus seiner Beratungsfirma in der Schweiz den Sinn, den er zum Leben braucht wie die Luft zum Atmen. Früher, als er noch für Grossfirmen arbeitete, sind immer wieder Gelder oder ganze Abteilungen just in dem Moment gestrichen wurden, als ein Optimierungskonzept fertig gestellt war. Solche Aktionen ziehen Jürg den letzten Nerv. Er liebt es stattdessen, wenn einer Anstrengung auch ein Ergebnis folgt. Dann freut er sich wie ein Schreiner beim Anblick eines handgefertigten Möbelstücks.

Nicht nur sein Herz hat Jürg dazu bewogen vor der Pensionierung die Weichen zu stellen. Er erinnert sich gerne an einen Lehrer an der Gewerbeschule in Bern. Dieser habe sechs Monate im Jahr unterrichtet und spartanisch gelebt, um in der anderen Jahreshälfte nach Afrika zu reisen und dort mit seinem Ersparten Schulen zu bauen.

Nach seinem Sicherheitsbedürfnis gefragt, schmunzelt Jürg. Das einzige Risiko das er eingehe, wäre ein Reputationsrisiko für seine Firma in der Schweiz, falls das Projekt den Bach runterlaufe. Aber auch dafür hat er eine Antwort parat. Die Pensionierung ist in überbrückbarer Nähe, sodass er keine Gefahr laufe persönlich Schiffbruch zu erleiden. Und wichtiger als die Reputation ist Jürg ohnehin der grundsätzliche Entscheid, sich nur noch um Leute und Dinge zu kümmern, die ihm Freude bereiten. „Ich suche mir die Leute aus, die mir gut tun und denen ich helfen kann.“ Er spricht`s und man hört sein Herz lachen!

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Eine Notiz zum Schluss: Jürg jongliert gerne mit Wörtern und Bildern. Um nach der Herzgeschichte wieder auf Touren zu kommen, packte er seine Kamera und ging spazieren. Technisch gesehen verstehe er nicht viel vom Fotografieren, aber er habe ein Auge für interessante Sujets und liebe es diese mit der Welt der Sprache zu verknüpfen. Folgerichtig nannte er sein neues Freizeitvergnügen „wyssabgleich“. Sein Nachname bietet ihm fruchtbaren Boden für allerlei weitere Wortspielereien: „adwyse“ (seine Firma), „wyssion“ (Projekt auf den Philippinen), „Gewyssen“ und „Wyssheit“ (wenn er jemandem ins Gewissen redet). Gepaart mit seinem sympathischen Berner Dialekt ergibt diese Wortakrobatik ein hervorragendes personal branding, auf das Jürg – zu Recht! – stolz sein kann.

*** ende ***

Ich danke Jürg für seine spontane Zusage, über ihn schreiben zu dürfen, und für das angeregte Gespräch an einem lauen Spätsommerabend in der Winterthurer Altstadt.

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Wer das Projekt „wyssion“ unterstützen möchte, meldet sich am besten direkt via Facebook bei Jürg: https://www.facebook.com/jurg.wyss

Wer sich für ein Coaching bei Jürg Wyss interessiert, findet alle wichtigen Informationen auf seiner Webseite www.adwyse.ch

Text, Titelfoto und letztes Foto: Barbara Sorino

Alle anderen Fotos: Jürg Wyss

  1. Angela @F_R_E_E_Dream #

    Leider kenne ich Barbara nicht und Jürg habe ich bislang nicht persönlich kennengelernt. Aber dass Jürg ein Mensch ist, der mit dem Herzen handelt, das hab ich mitgekriegt.
    Und dass Barbara diese wunderbaren Zeilen so niederschreibt, macht mich schlicht glücklich, denn endlich wird einem Menschen die Ehre erwiesen, über seine ganz besondere Art mitzuteilen BEVOR diese wunderschöne Seele nicht mehr unter uns weilt.
    Es ist schön zu wissen, dass es MENSCHEN wie euch gibt!
    Angela

    4. September 2015

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